Der Begriff systemisches Coaching bezieht sich zum einen auf die eingesetzten Coaching-Methoden, aber auch auf die Haltung und das Selbstverständnis eines Coachs. Oft wird der Begriff systemisches Coaching erklärt mit der Idee, nicht nur die einzelne Personen (z.B. den Coachee), sondern das gesamte System (z.B. eine Familie, oder eine Team) und die Wechselwirkungen innerhalb dieses Systems zu betrachten. Systemisches Denken geht aber noch einen Schritt weiter. Über die zugrundeliegenden systemtheoretischen und konstruktivistischen Ideen kann lang und ausführlich diskutiert werden. In diesem Beitrag versuche ich, die zentralen Ideen in wenigen Sätzen auf den Punkt zu bringen und habe sechs Thesen zu systemischen Coaching formuliert.
- Wahrnehmung ist selektiv. Menschen nehmen wahr, worauf gerade der Fokus liegt. Das gilt für die eigenen Ziele, Werte und Beliefs. Wir beachten, was gerade jetzt wichtig und bedeutsam ist. Das gilt auch für Meinungen, Aussagen, Ideen und Wünsche von Anderen. Ziel von systemischen Coaching ist, die Selektivität der eigenen Wahrnehmung zu berücksichtigen.
- Auf die Perspektive kommt es an. Denn auch was wir in einer Kommunikation wahrnehmen (hören, sehen, empfinden), hängt vom eigenen Fokus ab. Ziel von systemischen Coaching ist, den Fokus zu verändern, eine andere Perspektive einzunehmen und auch nach links und rechts zu schauen.
- Verstehen ist konstruktiv. Wir können die Welt nur auf Basis eigener Erfahrungen und der eigenen Geschichte wahrnehmen und verstehen. Das bedeutet: Es gibt nicht die eine Wahrheit. Sich selbst und Andere zu verstehen braucht Kommunikation – also den Austausch über die jeweils individuelle Wahrheit. Ziel von systemischen Coaching ist, die unterschiedlichen Konstruktionen der Wirklichkeit als Ressource zu begreifen.
- Bewertungen beziehen sich immer auf das eigene Wertesystem. Was wir gut, richtig und wertvoll finden bezieht sich immer auf die eigene Konstruktion der Welt und die eigenen Werte, Ziele und Beliefs. Wir können die Welt nicht neutral, von außen oder unbeteiligt wahrnehmen, sondern nur in Beziehung zu uns selbst. Ziel von systemischen Coaching ist, diesen Unterschied zwischen Beschreibung und Bewertung einzuüben.
- Auf den Kontext kommt es an. Wir sind als Menschen immer in soziale Bezüge eingebunden. Wahrnehmen, Erleben und Verhalten verändert sich in Abhängigkeit vom jeweiligen sozialen Kontext. Ziel von systemischen Coaching ist, die Bedeutung des Kontextes für die Lösung eines Anliegens zu verstehen.
- Die Welt ist komplex und dynamisch. Es ist nicht möglich, kausale Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung eindeutig zu benennen. Eine Veränderung in einem System führt zu weiteren Veränderungen, denn ein System reagiert immer dynamisch und auf sich selbst bezogen. Ziel von systemischen Coaching ist, Veränderungen zuzulassen und zu gestalten.
Der Wert von Hypothesen für das Coaching
Die Frage, nach den Hypothesen, die ein Coachee zu den Ursachen und Gründen für ein Problem oder ein Anliegen hat, kann für den Erfolg eines Coachings zentral sein. Dabei geht es nicht darum, Hypothesen im wissenschaftlichen Sinne zu formulieren, also solche die wahr oder falsch sein können, und deshalb auch geprüft werden müssen. Eine Hypothese im systemischen Sinn bezieht sich nicht auf kausale Zusammenhänge. Sie legt also Ursache und Wirkung nicht definitiv fest. Wichtig ist vielmehr die Frage, ob eine Hypothese nützlich ist – ob sich auf Basis der Hypothese in Bezug auf das Anliegen Ressourcen identifizieren lassen oder ob sich Lösungen ergeben. Hypothesen können dazu beitragen, die Aufmerksamkeit auf neue Ideen, andere Aspekte, Muster oder Verhaltensweisen zu legen. Das regt direkt Veränderung an. Außerdem bieten Hypothesen einen Rahmen für eigenes Erleben, Wahrnehmen und Verhalten. Sie helfen dem Coachee, sich als selbstgesteuert und selbstverantwortlich handelndes Individuum wahrzunehmen. Durch die Entscheidung für eine Hypothese (und damit gegen eine andere), wird der Coachee zur aktiv handelnden Person.